Richtige Ressourcenschätzung im Projekt: das Dauerthema im Projektmanagement

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Agiles Projektmanagement

 

07.08.2017. Die Aufwandsschätzung ist eine Aktivität, die regelmäßig während eines Projektes durchgeführt wird. In der Anfangsphase geht nur eine High Level Aufwandsschätzung, die auf Erfahrungswerte der Vergangenheit bzw. auf Analogieschätzungen beruht. Später kann eine sorgfältigere und verfeinerte Analyse folgen, welche die Details der Arbeit und den damit verbundenen Aufwand genauer in den Blick nimmt. Aber bereits in der Anfangsphase erwarten manche Auftraggeber eine genaue Angabe über den zu erwartenden Aufwand. Gleichzeitig befürchtet der Projektleiter auf diese Zahl festgenagelt zu werden, auch wenn es sich später herausstellt, dass die Aufwände ganz anders sind. Wie geht man als Projektleiter/in mit diesem Dilemma um?

Ist keine Schätzung besser als eine falsche Schätzung?
Die Frage ist so bekannt wie unbeliebt: Mit wieviel Aufwand ist in dem Projekt zu rechnen? Hierzu die richtige Zahl als Antwort zu finden, ist extrem schwierig. Schwierig ist aber auch, wie mit der angegebenen Zahl später umgegangen wird: Wie fix/belastbar ist die Zahl? Welche Annahmen liegen der Zahl zugrunde, welche „Puffer“ oder Zuschläge müssen hinzugenommen werden etc. Die Angst eine falsche Zahl an den Auftraggeber zu kommunizieren führt bei manchem Projektleiter dazu gar keine Zahl zu sagen. „Das kann man nicht schätzen“, „das kann man gar nicht so genau sagen“, „das hängt von vielem ab“ lauten dann die Aussagen. Wer aber Schätzungen meidet, dem ist anschließend ebenso nicht die Möglichkeit gegeben von seinen Fehlern zu lernen. Somit gilt die Devise: Besser falsch schätzen, als gar nicht zu schätzen!

Überstürzte Schätzungen
Ein weiteres Problem ergibt sich aus den Rahmenbedingungen der Schätzung „Wir brauchen mal ganz schnell Zahlen, weil Herr/Frau xy danach fragt“. Und dann muss manchmal wirklich über Nacht eine Aufwandschätzung für ein Projekt geleistet werden, das im nächsten Jahr starten soll und 12 Monate umfasst. Ist das wirklich sinnvoll? Mit welcher Motivation wird derjenige, der diese Aufgabe erhält, an diese Schätzung herangehen? Man fragt sich hier mit welcher Motivation der Beauftragte an die Annäherung herangehen wird. Letztendlich lautet die Antwort der Sinnhaftigkeit demnach: Nein, es ist nicht zweckmäßig eine spontane Bewertung abzufragen.

Fehlendes Verständnis: Verwechslung von Dauer und Aufwand
Ein weiteres Problem ist für viele Personen, die zum ersten Mal eine Aufwandsschätzung durchführen sollen, dass ihnen nicht klar ist, was genau sie schätzen sollen. Es fehlt die Unterscheidung zwischen „Dauer“ und „Aufwand“. Dauer bezeichnet einen Zeitraum in Zeiteinheiten (Arbeitstage, Arbeitswochen), während Aufwand die Arbeitsmenge in einem Zeitraum (Personentagen = PT) benennt.
Beispiel: ein Arbeitspakt umfasst 40 Tage Aufwand. Diese 40 PT können so geleistet werden, das pro Arbeitstag 1 PT geleistet wird (Dauer = 40 Arbeitstage) oder dass in 20 Arbeitstagen jeweils 2 PT (20 AT x 2PT = 40 PT) geleistet werden.


Abbildung 1: verschiedene Formen der Ressourcenplanung

Die richtige Unterscheidung von Dauer und Aufwand erleichtert in der Folge auch das Verständnis für die Ressourcenplanung.

Wie kann man bei der Aufwandschätzung vorgehen? Hier einige einfache Tipps:
Auf der Basis der geschilderten Schwierigkeiten ergeben sich einige Tipps, mit denen sich eine Aufwandsschätzung relativ einfach verbessern lässt:

  • Voraussetzung ist: haben Sie eine Anforderungsbeschreibung, auf deren Basis eine Aufwandsschätzung überhaupt möglich ist? Wer früh eine verlässliche Aufwandsschätzung haben will, muss auch früh eine verlässliche Basis dazu liefern!
  • Geben Sie klar an, was Sie schätzen, welche Annahmen Sie machen und was nicht Teil Ihrer Aufwandsschätzung ist. Was ist „im Scope“ der Schätzung – was nicht? Das wird Ihnen nicht nur in der regelmäßigen Anpassung Ihrer Aufwandsschätzung helfen, sondern auch in der Verbesserung des Prozesses der Schätzung von Projektaufwänden.
  • Nutzen Sie Ihr (Fach-)Team, um die Anforderungen des Auftraggebers genauer unter die Lupe nehmen zu können und mögliche Lösung zu diskutieren. Eine Schätzung nur durch eine Person kann sehr fehlerbehaftet sein – schätzen mehrere Personen können sich Fehler statistisch gesehen ausgleichen. Zusätzliche Alternative: Involvieren Sie erfahrene Spezialisten in die Analyse. Das erfordert aber auch, dass man sich genügend Zeit nimmt, um eine verlässliche Schätzung herbeizuführen.
  • Machen Sie nicht nur die Aufwandsschätzung für das Ideal- Scenario des Projektes! Seien Sie pragmatisch und realistisch bei der Aufwandsschätzung und fragen Sie nach Aufwände im „best case“ und „worst case“ Fall.
  • Dokumentieren Sie Ihre Aufwandsschätzungen und wie Sie diese kalkuliert haben. Das Dokumentieren ist hilfreich für jetzt und später.

 

Die unbekannten Größen dazu nehmen
Unvorhergesehenes passiert und die Anforderungen sind oft viel komplexer bei der Umsetzung als gedacht. Deswegen macht es Sinn, die Arbeitsaufwände auch mit Zuschlägen zu versehen:

  • Was in jedem Projekt ansteht, ist eine gewisse Form von Administration/Begleitprozessen: Besprechungen intern/extern, Telefonate/Telefon-Videokonferenz. Alles das muss auch vor- und nachbereitet werden, damit ein möglichst großer Nutzen entsteht. Außerdem: Visualisierungen vorbereiten, Ablage machen etc. Und nicht vergessen: auch das Team will gemanagt werden.
  • Eine gute Praktik ist es auch ein Aufwand/Budget für das Änderungsmanagement einzuplanen.

Diese bekannten Unbekannten lassen sich durch Beobachtung und Auswertung vergangener Erfahrungen über einen längeren Zeitraum quantifizieren. Schwieriger einzuschätzen sind aber Aufwände, die durch Faktoren entstehen, die gar nicht im Einfluss des Projektes liegen sondern quasi von außerhalb auf das Projekt treffen. Bei Investitionsprojekten sind das z. B. politische Unruhen in dem Land, in das z. B. eine Anlage geliefert werden soll oder auch klimatische Risiken, wie z. B. Unwetter. Bei F&E-Projekten zählen Aufwände, die sich aus der Unberechenbarkeit des Kunden oder des Lieferanten ergeben, zu diesen „unbekannten Unbekannten“.

 

Relative Schätzung des Aufwandes
Wie lassen sich verschiedene Komplexitäten schätzen? Das Argument „es kommt darauf an“, das hängt von so vielen Faktoren ab“ ist Ausdruck des Versuches individuell statt sehr allgemein mit der Komplexität umzugehen. Versuchen Sie es doch mal mit einer agilen Herangehensweise. Bringen Sie zuerst die verschiedenen zu schätzende Aufgaben in eine Reihenfolge: was ist komplexer, was ist weniger komplex und vergeben Sie dafür Punktwerte. Das ist nicht einfach und braucht zwischen den verschiedenen Beteiligten vielleicht mehrere Abstimmungsrunden.
Besonders hilfreich ist es, den zu schätzenden Gegenstand erst in kleinere Einheiten zu zerlegen. Diese Einheiten sollten einen Nutzen/Mehrwert darstellen und innerhalb eines Zeitrahmens von ein bis zwei Wochen umsetzbar sein. Der Vorteil: Einheiten dieser Größe lassen sich in ihrer Komplexität schnell schätzen und: wenn beim Schätzen das gesamte Team einbezogen wird, bekommt die Schätzung zusätzlich eine bessere Verlässlichkeit. Im Rahmen eines Schätzpokers findet dann die eigentliche Abschätzung im Team statt: Pro zu schätzende Einheit legt jedes Teammitglied verdeckt (und damit von anderen unbeeinflusst) eine Karte mit dem geschätzten Komplexitätswert auf den Tisch. Dann werden alle Karten gleichzeitig aufgedeckt. Gibt es nach dem Aufdecken der Karten große Abweichung in der Einschätzung, dann wird im Team über diese unterschiedlichen Bewertungen diskutiert. Nach ein bis zwei weiteren Schätzrunden sollten sich die Werte dann angenähert haben, weil jetzt auch ein besseres Verständnis über den Schätzgegenstand und seine Komplexität entstanden ist.
Abschließend übersetzen Sie die Komplexitätspunkte in Kalendertage. Die Frage hierzu lautet: wie viele Komplexitätspunkte kann ich in einer definierten Zeiteinheit umsetzen? Die Transformation des Aufwandes in Kalendertage basiert auf die An-zahl der effektiven Stunden, die ein Mitglied Ihres Teams am Projekt arbeitet. Wenn das Team etwa 30% täglich in Meetings, bei Tagesgeschäft (wie Emails lesen oder Fragen beantworten) oder anderen zeitaufwändigen Aktivitäten verbraucht, müssen Sie Faktor 1.3 einsetzen. Das wird es Ihnen erleichtern die Genauigkeit der Aufwandsschätzung anzupassen und in den späteren Phasen des Projektes die Effizienz Ihres Teams zu messen.

Fazit:
Aufwandsschätzung kann ganz schön aufwändig sein, wer sich aber schon mal gehörig verschätzt hat (und die Konsequenzen ertragen musste), weiß dass sich der Aufwand einer Aufwandsschätzung lohnt. Vergessen Sie nicht, dass jede Abschätzung eine gewisse Ungenauigkeit hat, besonders in den früheren Phasen des Projektes wegen der größeren Anzahl der Unbekannten. Und das bedeutet: alle Kalkulationen bzgl. der Unbekannten können sich im Laufe des Projektes ändern und deswegen sind wiederholte Schätzungen eine wertvolle Management-Hilfe.

 

Autor:

Mark Reuter
ATP der GPM und Geschäftsführer der dynamis GmbH

Kontakt: Redaktion@pmstatusreport.de